Bitterparty, möbliert
Einige, viele, ähnliche Hocker stehen herum. Alle rot. Ihre Proportionen sind fast gleich. Allerdings sind ihre Größen, damit vor allem die Höhen deutlich verschieden. So sitzen alle bei ziemlichen Höhenunterschieden nebeneinader beim Essen. Das auch als Rutsche ins Gespräch. Dazwischen ähnliche Tische, auch rot. Die Hocker sind vom Ulmer Hocker abgeleitet. Max Bill hat ihn als Gründungsdirektor für die HfG (dem Bauhaus-Nachfolger) entworfen. Als Pult, als Tisch, als Modul, als Modell, als Sitzgelegenheit sollte er Lehre, Forschung und Praxis gleichermaßen dienen.
Da haben wir also eine sich ständig veränderne, dezentrale Bodenskulptur zum Sitzen. Die als Sockel den Teilnehmenden und dem Bitteren als Bühne gilt. Diese möblierte Bitterparty soll in mehrfachem Sinn eine partizipative Arbeit für den öffentlichen Raum sein: Die Gerichte, die angeboten werden, wurden von den Amateurforscherinnen des Citizen Science Projektes Schmeck! entwickelt und gekocht.
Und die Gäste dieser sozialen Skulptur sind nicht nur eingeladen Bitteres zu feiern sie werden dabei auch räumlich, sprachlich, kulinarisch und gustografisch mit an dieser Arbeit weben, häkeln, kleben.
Eine Party für einen gefährdeten, gleichwohl widerständigen Geschmack. Angeboten werden neben einer Reihe köstlicher Bitternotengerichte, Kaffeesorten mit ausgeprägten Bitternoten, herbe Limonaden, Brotaufstriche aus Bittergurken, Rauke, Radiccio. Pomeranzenbonbons.
Aus der Gruppe der Amateurforscherinnen des Schmeck!-Projektes hat sich eine Bitter-AG gegründet, die Workshops vorbereitet, in denen das ganze Team streng experimentell die Gerichte für die Bitterparty, möbliert entwickelt. Der Ansatz dazu ist, sich dem Bitteren in seiner Ambivalenz zu nähern. Gerichte zu kreieren, die Bitteres ausgleichen, pronocieren, ins Verhältnis setzen – dem Bitteren nachgehen und ihm dabei etwas gegenüberstellen.
Neben dieser praktischen Forschungsarbeit sind Selbst- und Fremdgustografien begleitend zu den Workshops und den Bitterparties, möbliert geplant.
Bitter wird seit Jahrzehneten erfolgreich weggezüchtet. Süßes ist beliebter, die Affinität zum Fett stark. Eine Reduzierung der Sortenzahl schafft Erwartbarkeit. Es gibt mehr als 150 Möhrensorten, die meisten mit Bitterstoffen, In Supermärkten sind noch die zwei, drei Süßesten zu kaufen. Pathetisch formuliert: wir haben uns einen Geschmack wegzüchten lassen, wir haben uns ein Fünftel unseres Geschmacks wegzüchten lassen.
Das scheint auch Folgen für unsere Gesundheit zu zeitigen. Bitterstoffe steuern z. B. auch unseren Blutzuckerspiegel. Es wird viel geforscht zur Behandlung von Diabetes mit Bittergurken.
Ephemere Materialien haben in der bildenden Kunst eine lange Tradition. Essen gibt es in der bildenden Kunst seit der Antike. Die Flüchtigkeit eines Geschmacks als Material betont die Situativität, damit auch die Kontingenz jeder Erfahrung mit einer Arbeit.
Bitter in seinem Changieren zwischen Ablehnung und Zuneigung, macht Vieles erst interessant – Wein oder Espresso ohne Bitternoten? Als der Geschmack der gelernt werden muß, der Ausgeglichen werden muss, als der gefährliche Geschmack soll er hier Teil, Anlaß zum Gespräch, Ausgangspunkt einer sozialen Skulptur im öffentlichen werden.
Bitterparty, möbliert ist Teil des Schmeck!Projektes der TU Berlin. Das Schmeck!-Projekt wurde als Citizen Science-Projekt von den zwei Fachgebieten Politiksoziologie (Prof. Dr. Jan-Peter Voss) sowie Bildung für Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft (Prof. Dr. Nina Langen) an der TU Berlin initiiert. Es startete im November 2018 und wird als Pilotprojekt bis Ende 2020 gefördert. Bürgerforscherinnen untersuchen wie wir schmecken und wie wir schmecken können.
Bitterparty, möbliert versteht sich als Plattform im öffentlichen Raum des Schmeck!-Projektes, die den Bürgerforscherinnen, und anderen Partizipierenden, unterschiedlichen Publiken, Gelegenheit geben soll, Essen in verschiedenen Situationen unterschiedlich wahrzunehmen, Neues und Unbekanntes, Fremdes im Vertrauten, Vertrautes im Fremden zu entdecken, erforschen, herzustellen. Bitter in seiner Ambivalez von abgelehnt und geliebt, soll hier die Gelegenheit bieten, sich vorsichtigen Schrittes aus dem Käfig seiner Vorlieben zu wagen.
Bezügen dieser Arbeit sind Sophie Täuber-Arps Bar Aubette und Katarzyna Kobros Raumkonzepte, Constantin Brâncușis Tisch des Schweigens, Erich Reuschs dezentrale Bodenskulpturen, Seraphina Lenz Werkstatt für Veränderung, Yoko Onos Grapefruit, John Zorns Gamepieces: The Parachute Years, John Cages Zufallsstücke, Larry Clarks und John Cassavetes kooperative Filme, Hartmut Geerkens interaktive Hörspiele, Carol Gooddens, Tina Girouards und Gordon Matta-Clarks Food, Franz-Erhard Walthers Handlung als Werkkonzept. Permanent Breakfast von Friedemann Derschmidt, et al., und die gefühlten Millionen Klapphocker mit denen Manhattans Chinatown möbliert ist.
Markus Binner arbeitet seit längerem mit Sprache und Essen als Material. Meist kooperativ, partizipativ. Methodisch experimentell. Er ist Mitinitiator des Schmecksalons (www.essen-labor.de) und kuratierte neben etlichen Ausstellungen pluto, einen Raum für ortsbezogene Kunst (www.pluto-berlin.de). Und ist Gründungmitglied von Oucuipo, Berlin.
Er hat in Köln Afrikanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Und in Hamburg Freie Kunst bei Franz-Erhard Walther und Michael Lingner. Lebt in Berlin.
www.markusbinner.de